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Auch Kirche „machte mit“

Vor 50 Jahren wurde der „Radikalenerlass“ beschlossen

Studenten demostrieren 1968

Studenten demostrieren 1968

Seit den späten 60ern ging die Angst um vor Radikalen, besonders von links. Diese Angst mündete in die „Radikalenerlasse“. Unzählige Menschen wurden überprüft. Angehende Beamte, aber auch politisch engagierte Pfarrer standen vor Existenzängsten.

Von Nils Sandrisser (epd)

Frühsommer 1977. Der Pfarrvikar Gerhard Hechler steht kurz vor seiner Übernahme in den Pfarrdienst in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Im Amtsblatt der EKHN liest er dann aber, dass Pfarrvikarinnen und -vikare, die der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) angehören, nicht übernommen werden. Das bedeutet für ihn: Er steht vor dem Nichts. „Das war ein großer Schock für uns, für mich und meine Familie“, erinnert Hechler sich heute. „Wir hatten damals vier Kinder und unsere Zukunft war bedroht.“

Der Erlass führte zu einer Polarisierung

Am 28. Januar 1972 beschloss die Ministerpräsidentenkonferenz, Bewerberinnen und Bewerber sowie Mitarbeitende im öffentlichen Dienst auf deren Verfassungstreue zu überprüfen. „Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“ hieß der ministerielle Erlass. Im Volksmund sprach man bald nur noch vom „Radikalenerlass“.

Die Demokratie muss vor ihren Feinden geschützt werden. Der Erlass aber führte zu einer Polarisierung: Vor allem Konservative hatten Angst vor einer Unterwanderung des öffentlichen Dienstes durch Menschen, die sie als Linksextremisten betrachteten.

„Marsch durch die Institutionen“ 

Im Jahr 1967 schon hatte der Studentenführer Rudi Dutschke zum „Marsch durch die Institutionen“ aufgerufen. Die Angst vor Linksextremen ging aber nicht nur wegen der Studentenproteste um, sondern vor allem wegen Anschlägen der RAF, der Bewegung 2. Juni und der Revolutionären Zellen ab Ende der 1960er Jahre.

Auch der SPD machten linksgerichtete Strömungen in ihren Jugendorganisationen und in der Studentenschaft Sorgen. Zugleich wollte sie Vorwürfen von Konservativen vorbeugen, die Sozialdemokraten seien bloß Steigbügelhalter von Kommunisten. Es ging der SPD dabei um die flankierende Absicherung ihrer „Neuen Ostpolitik“. Seit 1969 suchte sie Ausgleich und Versöhnung mit den sozialistischen Nachbarn im Osten - eine Politik, die große Teile der CDU und CSU bekämpften, auch mit dem Argument, die SPD sei gegenüber den Kommunisten zu nachgiebig.

Diesem Eindruck wollten die Sozialdemokraten im Innern entgegentreten. Am 15. November 1970 fällte die SPD einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit der DKP und ihr nahestehenden Gruppen. Zudem wollte die SPD/FDP-Bundesregierung unter Kanzler Willy Brandt (SPD) mit einer bundeseinheitlichen Regelung einem Flickenteppich vorbeugen. Denn erste Bundesländer hatten schon Erlasse auf den Weg gebracht, um Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst zu durchleuchten, zuerst der Hamburger Senat am 28. November 1971.

Auch die Kirchen schlossen DKP-Mitglieder aus

Die Angst vor Linksextremisten strahlte nicht nur auf Parteien und staatliche Stellen aus, sondern auf viele Bereiche des öffentlichen Lebens. Auch auf die Kirchen, für die der „Radikalenerlass“ offiziell nie galt. Die Synode der EKHN hatte allerdings 1975 eine Unvereinbarkeit von DKP-Mitgliedschaft und Pfarrdienst beschlossen.

Ein Urteil ihres Kirchlichen Verfassungs- und Verwaltungsgerichts (KVVG) vom 11. Oktober 1977 bestätigte diesen Beschluss.

Anmerkung der Multimediaredaktion der EKHN vom 18. Januar 2022: Der Präsident des KVVG, Dr. Winfried Schneider, hat darauf hingewiesen, dass die Entscheidung des KVVG vom 11. Oktober 1977 nicht den eigentlichen Beschluss der Kirchensynode bestätigte, sondern die eingereichten Beschwerden dreier Pfarrvikare und eines Pfarramtskandidaten als unzulässig zurückgewiesen hat. Siehe Urteil: https://www.kirchenrecht-ekhn.de/document/23705

Auch andere Kirchen fällten solche Beschlüsse. Manche wollten linke Pfarrerinnen und Pfarrer zwar einstellen, aber nicht verbeamtet, sondern nur im Angestelltenstatus.

Der Radikalenerlass ist aktuelles Forschungsprojekt

Zwischen 1972 und 1991 wurden im Rahmen des Radikalenerlasses zwischen 1,8 und 3,5 Millionen Menschen überprüft. Die Zahlenangaben schwanken, weil es auf Bundesebene noch keine umfassende Forschungsarbeit gibt. Für etwa 10.000 der Überprüften senkte sich zunächst der Daumen, es kam zu einer Beanstandung.

Wie viele Menschen aber am Ende tatsächlich nicht eingestellt oder entlassen wurden, müsse noch genau erforscht werden, erklärt die Heidelberger Historikerin Birgit Hofmann, die gemeinsam mit ihrem Kollegen Edgar Wolfrum das Forschungsprojekt „Verfassungsfeinde im Land? Baden-Württemberg, '68 und der 'Radikalenerlass' (1968-2018)“ leitet. In Baden-Württemberg etwa, wo der „Radikalenerlass“ besonders scharf angewendet wurde, seien es wenige Hundert gewesen.

„Zum einen führte nicht jede Beanstandung, der ja auch eine Anhörung folgte, in der sich Bewerber oder Angestellte erklären konnten, automatisch zu einer Entlassung oder Ablehnung“, sagt Hofmann. Zum anderen hätten sich Abgelehnte auch vor Gericht erfolgreich gewehrt.

1993 gab der Europäische Gerichtshof einer Lehrerin Recht, die entlassen worden war, weil sie DKP-Mitglied war. Die Entlassung verstoße gegen die Artikel 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention, also gegen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, begründeten die Richter.

Übernahme in den Pfarrdienst erst nach Parteiaustritt

Für Gerhard Hechler und fünf weitere Pfarrvikarinnen und -vikare begann mit ihrer Nicht-Übernahme in den kirchlichen Dienst eine Zeit des Bangens. „Alle betroffenen Kolleginnen und Kollegen mussten in den folgenden Jahren immer wieder Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsstellungnahmen verfassen und sich verteidigen“, schildert Hechler. Er begann sicherheitshalber ein Studium der Sozialarbeit und schloss es ab.

Pfarrer wurde er dann aber doch noch. Die Kirchenleitung habe ihnen zugesichert, dass sie als Pfarrerinnen und Pfarrer auf Lebenszeit übernommen würden, sollten sie aus der DKP austreten. „Und so geschah es dann auch“, sagt Hechler.

Im Nachhinein hadert der heute 77-Jährige nicht mit den Geschehnissen dieser Zeit, auch wenn sie ihm unnötig und überflüssig vorkommen. Aber: „Ich fühlte mich zu keiner Zeit unterdrückt oder einer Willkür ausgesetzt“, sagt er. Denn die EKHN habe er trotz allem immer auf Augenhöhe mit sich erlebt. Nach seiner Berufszeit war Hechler Pastor im russischen St. Petersburg und Vorsitzender des Gustav-Adolf-Werks Hessen-Nassau.

Info

Die ARD zeigt am 17. Januar 2022 um 23:20 Uhr die Dokumentation „Jagd auf Verfassungsfeinde“.  Wiederholung am 18. Januar 2022 um 3:15 Uhr - auch in der ARD-Mediathek zu sehen.

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